Im Nachhinein habe ich erfahren, dass meine heutige Frau Daniela bereits nach dem ersten Test beim Neurologen angefangen hatte, im Internet Symptome und Möglichkeiten zu recherchieren. Sie googelte auch die Fachärztin und bis zum Zeitpunkt des Termines im Spital war sie bereits zu dem Ergebnis gekommen, dass es sich um ALS handeln könnte. Sie hatte diesen Verdacht auch meinem Kollegen mitgeteilt und ihn gebeten, dieses Gespräch als zusätzliche Unterstützung zu begleiten.
Im Gespräch wurden die Ergebnisse insgesamt besprochen und die Ärztin äusserte, dass sie einen Verdacht habe. Um diesen Verdacht zu bestätigen, wären weitere umfangreiche Tests im Unispital Basel notwendig. Aufgrund des nicht namentlich erwähnten Verdachtes fragte Daniela, was denn der Verdacht nun sei. Frau Dr. Schweikert erklärte, dass sie nicht unnötigen Stress verursachen wolle und fragte mich, ob sie den Verdacht beim Namen nennen solle. Bevor ich ihre Frage beantworten konnte, meldete sich Daniela und fragte, ob es mit A anfange, was Frau Dr. Schweikert bestätigte. In diesem Moment dachte ich, okay, hier verstehen sich drei Leute und ich steh im Wald! Dies muss wohl auch der Ärztin aufgefallen sein, denn sie fragte mich, ob ich wisse, wovon sie sprechen. Ich verneinte dies und sie fragte mich nochmals, ob ich den Namen des Verdachtes hören möchte. Auf meine Bestätigung hin, teilte sie mir mit, dass sie einen Verdacht auf ALS hat. Da ich nun genau so schlau war, wie vorher, gab sie ein paar wenige Informationen zur Krankheit und bat uns keinesfalls dies im Internet zu googeln. Dies mit folgender Begründung: Einerseits gäbe es sehr viele falsche Informationen und andererseits könnten die meisten Informationen ausserhalb des Kontextes zu einem falschen Bild führen. Zum Anderen existiert sehr viel Bildmaterial, welches ohne Bestätigung der Diagnose, falsche Emotionen wecken würde.
Meine Schlussfolgerung ist, dass, wenn ich diese drei Bereiche verantwortungsvoll planen will, muss ich mich mit den Konsequenzen des Krankheitsbildes intensiv auseinandersetzen. Das heisst, was bringt die Krankheit mit sich, was bedeutet dies für mich persönlich und für mein Umfeld und wie gehe ich damit um. In dem Moment ist für mich weder ein Verdrängen noch ein Nicht-Akzeptieren möglich. Somit kann ich heute mein Verneinen rational argumentieren.
Meine bisherigen Eindrücke waren geprägt von den wenigen Besuchen in älteren Spitälern, in denen der für mich typische Spitalgeruch herrschte und damit eine unangenehme Atmosphäre schaffte. Auch der erste Termin im Spital, anlässlich der Erstuntersuchung der Fachärztin Frau Dr. Schweikert, bestätigte dieses Bild, fand diese Untersuchung doch in einem kleinen Zimmer ohne Fenster statt.
Beim Eintritt wurde ich direkt auf die Station geführt, auf welcher auch die ALS Patienten betreut werden. Dieser Weg eröffnete mir ein komplett neues Bild von einem Spital. Die Gänge waren angenehm hell und immer wieder von Tageslicht durchflutet. Der Geruch in der Luft erinnerte wohl immer noch an ein Spital, war jedoch geprägt vom Duft der Desinfektionsmittel, welcher ein deutlich angenehmeres Gefühl bei mir auslöste. Auch als allgemein versicherte Person erhielt man in dieser Abteilung ein Zimmer mit Zweierbelegung. Da bei mir die Diagnose noch nicht sicher war, hatte ich das Zimmer für mich alleine. Im Nachhinein erfuhr ich, dass dies bewusst gemacht wurde, um mir das Krankheitsbild möglichst noch nicht vor Augen zu führen. Das Zimmer hatte ein nahezu zimmergrosses Fenster, welches unten mit einem breiten Sims abschloss, auf dem man sich bequem ans Fenster setzen konnte. Dadurch war der Raum mit Tageslicht gefüllt und löste dadurch keine einengenden Gefühle aus. Das Zimmer befand sich in den oberen Etagen und liess somit einen freien Blick in die Ferne und über die Dächer der Stadt Basel zu.
Für die Mahlzeiten erhielt ich einen Wochenmenüplan, der für jede Mahlzeit mindestens drei Auswahlmöglichkeiten anbot. Ausserdem erfuhr ich, dass das Unispital zum damaligen Zeitpunkt einen Sternekoch hatte, was sich bei jeder noch so kleinen Mahlzeit bemerkbar machte. Das Spitalpersonal war sehr zuvorkommend und die Meisten waren auch immer zu Spässen aufgelegt. Somit wandelte sich mein tristes Spitalbild zu einem Bild von einem ferienähnlichen Aufenthalt in einem Hotel – wenn man die Diagnoseabklärung ausblendet.
Ich erhielt als erstes einen kurzen Einblick über den geplanten Ablauf. So wurde ich informiert, dass verschiedene Tests geplant sind, die auf unterschiedliche Krankheiten hinweisen können. Dies bedeutet, dass ich nach Abschluss von einer zur Krankheit gehörenden Testreihe eine Wartepause haben würde, in welcher die Fachpersonen den positiven oder negativen Ausgang bewerten würden. Dieses Prinzip des Ausschlussverfahrens würde solange weitergeführt, bis entweder ein Test positiv auf ein anderes Krankheitsbild ausfallen würde oder nach Abschluss aller Testreihen nur noch die Diagnose ALS übrigbleiben würde. Dies ist bis jetzt die einzige Vorgehensweise, da es keinen spezifischen ALS Test gibt, um eine Diagnose zu erhalten.
Aus den diversen Testreihen sind mir vor allem zwei eindrückliche Momente in Erinnerung. Zu Beginn des Aufenthaltes wurde ich in den Keller, in ein fensterloses Zimmer geführt und durfte es mir dort auf einer Liege bequem machen. Es ging, wie schon beim Neurologen darum, die Nervenaktivität und -reaktion zu testen. Dies wurde hier jedoch in einem deutlich grösseren Umfang durchgeführt. So wurden, von der Zehenspitze bis unter die Augen, nicht weniger als 63 Nadeln platziert, natürlich nicht alle gleichzeitig, doch das machte für mich, der einen Horror vor Nadeln hatte, keinen Unterschied. Für die einen ist es Akupunktur, für mich ist es nur Tortur und als hätte es nicht schlimmer kommen können, traf der Arzt mit der dritten Nadel einen Nerv. Der daraus resultierende elektrisierende Schmerz war etwas vom Unangenehmsten, was ich bisher erlebt hatte. Dieses Ungeschick wiederholte sich nicht mehr, doch aufgrund der nun herrschenden Anspannung bei mir, gestaltete sich der eine oder andere Nadelstich deutlich schmerzhafter, als es hätte sein müssen.
Ein, zwei Tage später wurde ich für eine Rückenmarkpunktion vorbereitet. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich keine Ahnung, was das sein sollte. Ich wurde abgeholt und wieder einmal in ein fensterloses Untersuchungszimmer auf der Station gebracht. Hierzu durfte ich im Bett liegen bleiben und mich dorthin chauffieren lassen. Doch was ich dann dort auf dem Tisch liegen sah, weckte naheliegende Erinnerungen: eine Spritze mit einer, aus meiner Sicht, nicht für den Menschen geeigneten Nadeldicke. In einer anderen Situation hätte ich diese einem Elefanten zugeordnet. Mit wurde dann erklärt, dass ich mich auf die Seite legen und so gut wie möglich zusammenrollen soll. Es gehe darum, dass sich die Rückenwirbel soweit wie möglich auseinander bewegen, damit man mit der Spritze zwischen diese Wirbel einstechen kann, um aus dem Rückenmark Nervenflüssigkeit für die Analyse ziehen zu können. Zur Schmerzlinderung gab es eine Lokalanästhesie - natürlich mit einer Spritze. Der ganze Eingriff verlief mehr oder weniger schmerzfrei, doch der Eindruck von dem, was da gemacht wurde und dann noch mit einer Spritze, grub sich tief in mein Gedächtnis ein.
Als positiven Aspekt dieser Untersuchungswoche kann ich sagen, dass meine Nadelphobie geheilt war und ich heute die wiederkehrenden Blutuntersuchungen mit einem Lächeln über mich ergehen lassen kann.
Am Donnerstag war die Testreihe abgeschlossen und ich durfte am Freitag wieder nach Hause. Die Besprechung für das Resultat aus dieser Untersuchungswoche wurde auf einen späteren Zeitpunkt terminiert.
Dies aus nachfolgenden Gründen: Bei keiner der durchgeführten Testreihen konnte ein positiver Befund gefunden werden, womit das Krankheitsbild ALS übrig blieb. Die noch wenigen und nicht ausgeprägten Symptome waren zu diesem Zeitpunkt ungenügend, um eine definitive Diagnose ALS auszusprechen. Die definitive Diagnose ALS konnte im Mai 2015, aufgrund der fortgeschrittenen Symptome, bestätigt werden.
In diesem Gespräch gab uns Frau Dr. Schweikert einen vorerst allgemeinen Einblick in das Krankheitsbild, da der Verlauf der Krankheit sich sehr individuell gestaltet. Wir wurden wiederum mit der durchschnittlichen Lebenserwartung von 3-5 Jahren konfrontiert und sie legte uns nahe, geplante Aktivitäten zeitnah umzusetzen. Sie bot mir ein Zeugnis für eine teilweise Arbeitsunfähigkeit an, welches ich jedoch ausschlug, da für mich ein reduziertes Arbeiten zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage kam. Auch hier kam wieder mein rationales Wesen zum Vorschein. Mein Unbehagen, meine Tätigkeiten im Beruf und Sport zu reduzieren, war deutlich stärker, als das Gefühl irgendetwas im Leben zu verpassen, da mein Leben sich über Beruf, Sport und Beziehung definierte.
Sie informierte im Weiteren über die anstehenden Massnahmen bezüglich der Sozialversicherungen und der persönlichen Angelegenheiten. Besonders hob sie die Erstanmeldung bei der IV hervor, aufgrund der notwendigen Bearbeitungszeit der Anträge und der Karenzfrist für die Auszahlung der Leistungen.
- Ich erwarte eine gleichbleibende Behandlung, wie es vorher war, ich möchte keine Sonderbehandlung, es sei denn, sie ist unumgänglich.
- Ich liebe schwarzen Humor und dafür muss es Platz haben. Wichtig, schwarzer Humor hat für mich nichts mit einer lebensverachtenden Haltung zu tun.
Das restliche Umfeld bei der Arbeit, im Sport oder auch Privat habe ich dann bei passender Gelegenheit oder wenn jemand dies irgendwo aufgeschnappt hat und auf mich zukam, informiert. Mir wurde hierbei wieder bewusst, wie schnell sich Nachrichten über das Buschtelefon ausbreiten.
Nach den Gesprächen mit Daniela über den weiteren Verlauf der Beziehung habe ich, wie es meiner Natur entspricht, bereits ein bisschen in die Zukunft geschaut. Umfangreichere Ferienpläne und/oder zunehmender Pflegebedarf würden sicherlich, trotz staatlicher Unterstützung, finanziell ihren Tribut fordern – von beiden. Wie ich in Reportagen, aus anderen Situationen in der Vergangenheit aufgeschnappt hatte, können in einer Partnerschaft, in der eine Person stirbt, Schmerz und Trauer zusätzlich durch unklare finanzielle und rechtliche Situationen belastet werden, die durch ungeregelte Verhältnissen (keine Heirat oder eingetragene Partnerschaft) entstehen. Heirat würde die rechtliche Sachlage klären und somit eine gewisse Sicherheit für die Zukunft von Daniela bieten. Eine Heirat wäre für mich davon abhängig, dass die zukünftigen Schwiegereltern, trotz der Situation, Daniela uneingeschränkt unterstützen würden. Bei einem Wochenendbesuch bei ihnen nutzte ich die Gelegenheit, um dieses Thema aufzunehmen. Mit der Bestätigung, dass sie jeglichen Entscheid von Daniela unterstützen, konnte ich diesen Gedanken und die damit verbundenen Aufgaben weiterverfolgen. Im Februar musste ich geschäftlich in die USA reisen und Daniela und ich hatten vereinbart, dass sie mich begleitet und wir noch drei Tage anhängen, für einen Abstecher nach New York. Diese Gelegenheit bot für mich einen optimalen Rahmen, um den Heiratsantrag einzuplanen. Mein erster Gedanke war, dies bei einem schönen Nachtessen, hoch über den Dächern von New York zu machen. Aufgrund der Kurzfristigkeit lies sich dies jedoch nicht umsetzen. Eine Alternative auf dem Times Square war mir dann zu kitschig, zumal ich nicht gerne im Rampenlicht stehe. Ich hatte das Glück und konnte in unmittelbarer Nähe zum Times Square bei einem Italiener noch einen Tisch reservieren. In der Hoffnung, dass die Bilder und äusserst positiven Rezessionen aus dem Internet der Wahrheit entsprachen, war die Planung somit abgeschlossen.
Ich hatte, vor Antritt der Reise, einen Verlobungsring gekauft und musste mir über den gesamten Zeitraum alle erdenkliche Mühe geben, diesen versteckt zu halten und nirgendswo, weder zu verlieren noch zu vergessen. Die Wahl des Restaurants war ein echter Glücksgriff. Der Italiener erfüllte alle Klischees, wie ich sie aus den Filmen der 30er Jahre mit James Cagney kannte oder den 60er Jahren mit all den bekannten Hollywoodgrössen. Die Einrichtung bestand aus sehr edlen Materialien und erweckte bei mir die Erinnerung an eine gelungene Vermischung von italo-amerikanischem Ambiente und einem Hauch von Mafiaromantik. Eine gewisse Anspannung und Nervosität hatte sich bei mir schon zu Beginn des Abends angekündigt und sie steigerte sich bis zur Stunde der Wahrheit fast ins Unermessliche.
Ich muss gestehen, dass ich mich aufgrund der Nervosität nicht an den genauen Verlauf des Antrages erinnern konnte und mein Gefühl mir sagte, dass ich mich unzählige Male verhaspelt habe. Trotz der Unbeholfenheit, wurde ich mit einem JA belohnt!
Daraus resultiere für mich, bereits zu diesem Zeitpunkt, bewusst oder unbewusst, eine Aussicht auf 5-10 Jahre und löste bei mir keine Notwendigkeit für eine radikale Umstellung aus.
Im Zusammenhang mit der Rente entnahm ich aus dem Reglement, dass eine einjährige Arbeitsunfähigkeit von 40% Voraussetzung ist und eine Leistungserbringung frühestens 6 Monate nach der Anmeldung erbracht wird. Die frühzeitige Anmeldung sollte die Lücke zwischen Arbeitsende und Erhalt der Rente möglichst kurz halten.



Von da aus führte uns der Weg nach Australien, wo wir zwei Wochen zu Besuch bei einer sehr guten Freundin waren und dort auch zum ersten Mal Weihnachten bei 30 Grad feierten. Hinzu kam das schönste Weihnachtsgeschenk, das man sich wünschen kann, ein positiver Schwangerschaftstest! Besser hätte das Timing nicht ausfallen können.
Zum Abschluss der Reise ging es dann nach einer langen Flugreise über LA und Miami nach Barbados, wo wir ein Kreuzfahrtschiff bestiegen, um eine zweiwöchige Karibikrundfahrt zu geniessen. Dies war dann für beide auch das erste Neujahrsfest auf einem Schiff, ebenfalls in kurzen Hosen und sehr angenehmen Temperaturen. Die Rückkehr ins traute Heim war dann ein Temperaturschock und die kurzen Hosen fehl am Platz. Das Schöne an der Reise war, dass die teilweise abenteuerlichen Etappen noch keinerlei Einschränkungen durch die Krankheit erfuhren. Es war die letzte Reise, die keinerlei Kompromisse erfahren musste.